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Jahrbuch der DKB STIFTUNG

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Sehen und gesehen werden

Sehen und gesehen werden Inspiriert von den Klängen der Karottenrevolution erarbeitete die Tanzlehrerin Lena Nguyen mit ihrer Klasse eine 1 : 1-Performance. Ein Gespräch über Sorgen und Selbstbewusstsein, Mut und Nähe Frau Nguyen, Sie haben Ihre Tanzschüler*innen die Inhalte der Performance „Zwischen den Zeilen“ selbst bestimmen lassen. Um welche Themen ging es den Jugendlichen? Die Karottenrevolution gehört ins Genre Neue Musik, sie ist sehr dynamisch und wechselvoll. Ich fragte meine Schüler*innen, was die Musik in ihnen ausgelöst habe. Sie erzählten von Sorgen, die sie im Alltag oft beiseiteschieben. Es ging zum Beispiel um ihre Angst, nicht verstanden zu werden, oder den Druck, sich anpassen zu müssen. Eine meiner Schüler*innen befasste sich mit der Arroganz, mit der westliche Staaten versuchen, anderen Ländern ihre Werte überzustülpen. Diesen so wichtigen Themen wollte ich unbedingt einen eigenen Raum widmen, abseits unserer Aufführung der Karottenrevolution. Ich bat meine Klasse also, ihre Gedanken aufzuschreiben und sie dann in Bewegungen zu übersetzen. „Wir sollten uns selbst akzeptieren und nicht immer auf die Meinungen der anderen schauen. Stehen wir zu uns und unserem Ich? Wer will schon sein ganzes Leben mit einer Lüge über sich selbst verbringen?“ Tanzschülerin, 14 Jahre Wie schwer fiel es den Jugendlichen, ihre Gefühle zu benennen und auszudrücken? Wer tanzt, ist geübt darin, sich mit seinem Körper auseinanderzusetzen und Gedanken über einen tänzerischen Ausdruck zu verarbeiten. Wenn meine Schüler*innen für ein Thema keine Worte finden, sage ich oft zu ihnen: Versuch doch mal, es zu tanzen! Meistens kommen ihnen danach auch die richtigen Worte in den Sinn. Dafür braucht es natürlich einen geschützten Raum und viel Vertrauen. Manche der Schüler*innen kenne ich, seit sie vier Jahre alt waren – heute sind sie 17. Aber um zu so persönlichen Texten vor jeweils einem oder einer Besucher*in zu tanzen, braucht man ein gewisses Selbstbewusstsein. Fünf Schülerinnen meiner Klasse trauten sich das zu. Wie haben die Besucher*innen auf die auch für sie ungewohnte Nähe reagiert? Es gab zunächst ein wenig Skepsis, manche störten sich daran, dass man eine Audiodatei laden musste. Ich erinnere mich besonders an eine ältere Dame, die zuerst sehr zögerlich war, sich dann aber auf die Performance einließ. Danach war sie den Tränen nahe, bedankte „Wenn ich in die Zukunft schaue, spüre ich eine große Last, weil ich weiß, dass diese Zukunft nicht so gut sein wird, wie wir uns das wünschen. Ich muss das die ganze Zeit verdrängen, aber manchmal kommt es dennoch hoch. Und ich frage mich, ob wir gegen den Druck, den das auslöst, nicht etwas tun müssen?“ Tanzschülerin, 17 Jahre sich bei der Tänzerin für ihre Offenheit und fragte, ob sie sie umarmen dürfe. Was blieb Ihren Schülerinnen im Gedächtnis? Dass sich viele Menschen sehr intensiv bei ihnen bedankten. Es tat ihnen gut zu erleben, dass sie den Zuschauer*innen wirklich etwas geben konnten. Dass sie eine Stimme hatten, sie mit ihren Themen gesehen wurden. Oft entstanden nach der Performance noch WAS IST EINE 1 : 1-PERFORMANCE? Gespräche, es gab viel Ermutigung: „Mach weiter so!“ oder „Toll, dass du dich das getraut hast“. Für die Jugendlichen war es gut, ihre Gefühle in Wort und Tanz auszudrücken – so konnten sie sie leichter loslassen. QR-Code scannen und Audiodateien anhören Gemeinsam mit fünf ihrer Schüler*innen hat Lena Nguyen, Tanzlehrerin der Kreismusikschule Oberhavel, für das Musikfest Liebenberg eine so genannte 1 : 1-Performance erarbeitet – inspiriert durch die Musik von Gabriella Smiths Komposition „Carrot Revolution“. Man kann diese Form von Aufführung als Zwiegespräch zwischen Künstler*in und Publikum umschreiben: Je ein*e Tänzer*in tanzt einem bzw. einer Zuschauer*in vor. Die Besucher*innen hören währenddessen auf ihrem Handy oder dem Tablet der Tanzgruppe die entsprechende Audiodatei, von den Jugendlichen geschriebene und eingesprochene Texte über ihre Gedanken und Gefühle. 16 DKB STIFTUNG · JAHRBUCH 2022 ZUKUNFT: GEMEINSAM MACHEN! 17